Gewalt ist kein Kavaliersdelikt
Vor einiger Zeit habe ich meine Geschichte zu Stalking und häuslicher Gewalt mit Hilfe von Dirk und Martin von violens.org bei Facebook publik gemacht. Die Resonanz war mehr als das Wort „überwältigend“ übermitteln kann. Ich war schlichtweg hin- und hergerissen zwischen unendlich befreit-glücklich und traurig-entsetzt.
Mit 21 Jahren wurde ich Opfer eines Gewaltverbrechens. Im Spätsommer 2011 begann für mich die Hölle auf Erden. Ich saß im blühenden Leben in Einzelhaft. Zu dem Zeitpunkt war ich bereits erfolgreiches Model, hatte ein 1er-Abitur und studierte Ernährungswissenschaften in München-Weihenstephan. Ich führte ein Leben, von dem viele Mädchen träumten: Ich war vollkommen autonom, verdiente mein eigenes Geld, hatte wahre Freunde um mich, arbeitete als Model und hatte wohl auch noch etwas in der Birne. Doch dann kam der Cut, der mein ganzes Leben veränderte.
Mein zukünftiger Stalker platzte in mein Leben. Eigentlich wollte ich überhaupt keine Beziehung, da ich aus einer langjährigen, liebevollen Beziehung kam und es einfach nur genießen wollte, alleine zu sein und mich nur auf mich zu fokussieren. Doch der Typ ließ nicht locker und seinen ganzen Charme spielen, wickelte mich um den Finger, sodass er mir irgendwann leid tat und ich mich auf eine Beziehung eingelassen habe. Dass ich damals nicht auf mein Bauchgefühl gehört habe, hat mein ganzes Leben verändert.
Borderline: Zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt
Kennengelernt habe ich einen „Sonnenschein“, einen immer gut gelaunten Fitness-Trainer, gut gebaut und immer einen flotten Spruch auf den Lippen. Erlebt habe ich die Hölle auf Erden, einen schizophrenen Gewalttäter. Nachdem ich nach Wochen in Einzelhaft mit häuslicher Gewalt, Körperverletzung, Freiheitsberaubung, Drohungen, Nötigungen, etc. – Genaueres *hier* nachzulesen – in einer „Nacht-und-Nebel-Aktion“ geflohen bin, folgte ein fast einjähriger Stalking-Albtraum.
Jeden einzelnen Tag prasselten mehrere hundert (!) Anrufe, SMS, E-Mails und Briefe auf mich ein. Jeden einzelnen Tag mehrere hundert. Schließlich blockierte ich 69 Rufnummern. Entweder verschaffte er sich eine neue SIM-Karte oder er erzählte angeblichen „Freunden“, dass ich ihm fremd gegangen sei und sie mich bitte anrufen sollen. Sogar seine Mutter hat er angelogen, die mich daraufhin keifend anrief, wie ich ihrem Sohn fremdgehen konnte, ich verlogenes Flittchen. Ich bin weder fremdgegangen noch war ich ein Flittchen. Sogar eine Art Todesanzeige hatte er von mir bei Facebook hochgeladen – mit den Worten: „Burn in hell you…“
Das Kontakt- und Näherungsverbot hat nicht viel gebracht
Das Kontakt- und Näherungsverbot, das ich zugesprochen bekam, ließ ihn kalt. Er hat mehr als 2000 mal nachweislich dagegen verstoßen. Von den anonymen Anrufen ganz abzusehen. Mit ihnen wären es locker 6000 Verstöße. Auch seinen Job verlor er, weil er nur noch mich in seinem Kopf hatte. Mich und das Ziel mir mein Leben zur Hölle zu machen.
Im Exil bei meinen Eltern fühlte ich mich alleine und unverstanden. Verfolgungswahn, Angstzustände und Schlaflosigkeit waren nun monatelang mein täglicher Begleiter. Er wollte mir mein Leben nehmen – hatte er das nicht ohnehin schon irgendwie? Zumindest drohte er das in seinen unzähligen wie der Regen auf mich herab prasselnden Nachrichten tagtäglich an. Wenn er nicht mehr mit mir zusammen sein durfte, sollte es niemand mehr dürfen. Dirk von violens.org hat es schön zusammengefasst:
„Ich hatte ihn verlassen. Er mich aber nicht.“
Als Reaktion auf meinen Post trudelten unzählige Nachrichten bei mir ein. Menschen, denen etwas ähnliches passierte. Allen gemein war eines: Auch sie waren Opfer. Und haben nie wirklich darüber geredet.
Niemand hat das Recht einem anderen Menschen Gewalt zuzufügen
Seitdem bin ich äußerst sensibel, vor allem was das Thema Gewaltverbrechen angeht. Und eines fällt mir immer wieder auf: Gewalt wird verharmlost und oftmals als Kavaliersdelikt abgetan. Letztens habe ich ein Foto bei Facebook gesehen, auf dem eine Teilnehmerin bei einem Lauf gezeigt wurde: Kurze Laufshorts und Tanktop. Eine in unserer westlichen Welt völlig normale Laufbekleidung. Zudem war es Hochsommer.
Die Kommentare dazu ließen meine Kinnlade herunterklappen. Sie solle sich gefälligst anziehen und bräuchte sich nicht wundern, wenn sie vergewaltigt wird. Wie bitte?! Glauben diese Menschen das wirklich, was sie schreiben? Ich bin entsetzt und mir dreht sich alles im Magen, wenn ich so etwas sehe bzw. lese. Und das ist leider bei weitem kein Einzelfall.
„Hab Dich doch nicht so!“
Und genau das ist das Problem: Täter und gewaltbereite Personen wollen oftmals Opfern die Schuld für Ihr Gewaltverbrechen in die Schuhe schieben. Immer wieder höre ich, wenn ich mit Opfern von einem Gewaltverbrechen rede, dass ihnen vermehrt eingeredet wurde, dass sie provoziert hätten. Meist einfach eine dreiste Lüge, um sich als Täter selbst frei von der Schuld zu sprechen – man wurde provoziert und das sei die Genehmigung mit Gewalt zu antworten.
So kann sogar ein Sommerkleid oder normale Sportbekleidung Provokation sein und das Opfer einer Vergewaltigung demnach selbst schuld, weil es zu aufreizend angezogen war. Tätern ist jede Ausrede recht. Dirk von violens.org trug wohl eine zu schöne Lederjacke. Für die Täter Grund genug, um ihn ans Rande des Lebens zu prügeln.
Wir müssen endlich aufhören, Gewalttaten sowie Stalking klein zu reden
Ich hing zu sehr an meinem Leben. Mein Peiniger wollte, dass ich mein Leben komplett aufgebe und mich von der Außenwelt abkapsle. Er wollte die vollkommene Kontrolle über mich. Er drohte, mit Küchenmesser an seiner eigenen Halsschlagader, dass er sich umbringe, wenn ich nicht tue, was er will. Ich würde mit meinem Verhalten, mein Leben nicht für ihn aufgeben zu wollen, ihn so sehr provozieren, dass er keinen anderen Weg sehe. So legitimierte er auch Freiheitsberaubung, Beleidigung, Nötigung, Stalking und Körperverletzung.
Und genau dieses Schema findet man immer wieder bei Gewaltverbrechen: Dem Opfer wird immer wieder die Schuld zugeschoben, um sich als Täter von der Schuld zu befreien. Doch Gewalt ist kein Kavaliersdelikt. Opfer brauchen oft Monate oder gar Jahre um mit dem Erlebten leben zu können – wenn überhaupt. Mein Leben wird nie wieder das Gleiche sein. Und ich bin noch mit „einem blauen Auge“ davongekommen.
Niemand, absolut niemand hat das Recht jemand anderem Gewalt anzutun. Und die wenigsten Opfer trauen sich, darüber zu reden. Weil sie Angst haben. Angst vor ihrem Peiniger und Angst vor der gesellschaftlichen Reaktion.
„Vielleicht hat er sich ja provoziert gefühlt.“
Warum mache ich das alles öffentlich?
Auch ich hatte Angst, meine Geschichte vollkommen publik zu machen. Was sollen die anderen von mir denken? Oft bin ich auch auf Unverständnis gestoßen. Oft merkte ich, dass die Person mir gegenüber das einfach nicht verstehen konnte, dass man in einer solchen Situation wehrlos ist. Gerade als jemand, der noch nie mit Gewalt in seinem Leben konfrontiert wurde. Unterschwellig bekam ich das Gefühl vermittelt, dass ich selbst einen an der Waffel haben müsste, wenn ich auf so jemanden reinfalle.
Erst mit der Zeit habe ich verstanden, dass manche Dinge einfach passieren. Auch bei einem Autounfall kann es sein, dass ich absolut nichts dafür kann und einfach nur Opfer bin. Das Leben ist nicht immer schön, jeder hat sein Paket zu tragen. Entscheidend ist, was ich aus der Situation mache und wie ich damit lebe.
Eine der Reaktionen aus meinem Umfeld hat mich sehr zum Schmunzeln gebracht: „Fast schon witzig ist, ich dachte immer Du bist so ein Glückskind, gute Jobs, etc.“ Das zeigt mir, dass ich wohl auf dem richtigen Weg bin – die Geschichte ist ein Teil von mir, aber eben Geschichte.
Das will ich nutzen, um diese Botschaft in die Welt zu tragen. Wenn ich einen Wunsch frei hätte, würde ich mir wünschen, dass meine Botschaft möglichst viele Opfer erreicht. Sie sollen wissen, dass es immer einen Ausweg gibt, auch wenn man in der Situation selbst schon aufgehört hat daran zu glauben.
Laut Statista gab es im vergangenen Jahr 193.542 polizeilich erfasste Fälle von Gewaltkriminalität in Deutschland. Die Dunkelziffer ist viel größer. Das heißt, jeder von uns kennt mindestens ein Opfer pro Jahr. Und die Opfer schweigen.
Kein Opfer ist egal
Dirk und Martin hatten mit violens.org ein Projekt ins Leben gerufen, dass das Thema Gewalt aus seinem Schattendasein hebt. Gewalttaten passieren jeden Tag. Darüber geredet wird in den seltensten Fällen. Für mich war dieses Projekt die Gelegenheit, meine Erfahrung frei zu lassen. Mich von ihr frei zu machen und mein Schweigen zu brechen. In der Hoffnung, meine Geschichte würde dem/der ein oder anderen helfen. Denkt an Eure Kinder, Neffen, Nichten oder Enkel. Jeder kann zum Opfer werden.
Ich habe mit meiner Vergangenheit abgeschlossen und versuche das Beste daraus zu machen. Das alles hat mich stärker gemacht und mir bewusst gemacht, was wirklich wichtig ist in unserem Leben. Menschen, die immer für uns da sind, Momente, die uns glücklich machen, und unsere Gesundheit. Nichts Schlechtes passiert, ohne dass es nicht auch etwas Gutes hat. Wir müssen nur bereit sein, das auch sehen zu wollen. <3
Hast Du eine Geschichte, die Dein Leben gezeichnet hat? Wurdest Du Opfer oder gar Täter eines Gewaltverbrechens? Dirk und Martin suchen immer wieder nach Geschichten, die noch unerzählt sind. Meldet Euch bei Ihnen und lasst Eure Geschichte los.
Teilt die Botschaft. Gewalt war nie die richtige Antwort, noch wird sie es jemals sein.
Hier noch der Link zum Beitrag, den das Sat1-Frühstücksfernsehen mit mir gedreht hat: KLICK.
No Comments